Montag, 2. September 2013

RAL 5009 I.

Ein alter Mann saß auf einer Bank und dachte nach.
Der Tag war regnerisch gewesen.
Das müde Grau senkte sich langsam zum satten Dunkel der Nacht, doch die hellgrünen  Blätter, die der schüchterne Sommer hervorbrachte ließen es noch nicht so richtig gehen.
Der alte Mann besah sich seine Hände, sie waren von vielen Furchen vergessener Schrammen durchzogen und wie pastellfarbene, azurene Pinselstriche zogen etliche kleine, wenige große Adern ihre Bahnen unter seiner ledernen Haut.
Er fragte sich, warum er sich niemals hatte tätowieren lassen, wo er doch so ein bewegtes Leben lebte. Zumindest irgendwann mal lebte.
Heute noch rief er manchmal jungen Leuten die er im Park traf voller Stolz zu: "Könnt froh sein, wenn ihr so alt seid, wenn ihr so ein Leben hattet wie ich!" und manchmal dachte er auch wirklich, dass er froh sein konnte.
Das einzige was er in seinem Leben bisher immer mit sich getragen hatte waren Gedanken gewesen.
Gedanken und mittlerweile eine Brille und ein Gebiß.
Und manchmal dachte er daran, dass er seinen Hund jetzt schon seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte.
Es war ein Mischling gewesen, eine Mischung aus Schäferhund und Retriever, oder irgendetwas ähnliches, aber ein stadtliches und treues Tier, dass ihn auf so manchen Wegen begleitet hatte.
Damals.
Er dachte, dass er wohl prächtiges Haar gehabt haben musste als er noch jung war, doch jetzt konnte er sich nicht mehr so recht daran erinnern; alles was übriggeblieben war, waren ein paar graue und verblichen- braune Strähnen, die an seinem Schädel herunterhingen.
Ja, man konnte schon froh sein, wenn man noch so alt geworden war.

Der Regen setzte nun ein und verschlang das letzte Licht des Tages.
Ein paar Leute, die auf einer Bank in der Nähe saßen standen auf und gingen.
Die Beine des alten Mannes hielten still.
Jetzt noch nicht.
Er erinnerte sich, dass ihm die Gesichter der Leute die vorübergingen in letzter Zeit viel müder vorgekommen waren, er wusste aber nicht so recht, wann er es zum ersten mal bemerkt hatte. Früher erschienen sie ihm aber aufjedenfall wacher. Oder gesünder?
Es tat sich schon viel und vielleicht hatte sich ja auch schon getan. Vielleicht kriegte man das irgendwann nicht mehr so mit. Schwamm nicht mehr so an der Oberfläche.
Der alte Mann öffnete mit seinem Feuerzeug ein Bier.
Es hatte wieder aufgehört zu regnen, ein kurzer Schauer, der schließlich nur den Tag einer sternenlosen Nacht hatte weichen lassen.
Die Welt war leer, wäre der Himmel ein ungetrübter See gewesen, auf dem sie sich hätte spiegeln können.
Mit harten Fingern streichelte der alte Mann sanft ein Buch das neben ihm auf der Bank lag und dessen Rücken vom vergangenen Schauer feucht und von etlichen früheren aufgeweicht und ausgeblichen war.
Jules Vernes.
die Kamillenblümchen lächelten ihn an, viele kleine lächelnde Blumen, irgendwo verloren in dieser Nachtwiese.
Damals waren sie immer unterwegs gewesen, der alte Mann und seine Freunde.
Wahrscheinlich war er sogar schon von unzähligen Blumen auf Nachtwiesen angelächelt worden, nur damals zählte es einfach nicht soviel.
Und heute.
Nun heute lächelten ja oftmals die Menschen nicht mehr, sie sahen immer so blaß und übermüdet aus.
Seine Finger auf dem Buch hielten inne.
Was war es noch gleich, dass ihn bewegte?
Er griff in die Tasche seiner traurigen Lederjacke, die schon mehr gesehen hatte, als all diese jungen Leute in den Parks zusammen.
Irgendwo zwischen den kleinen Dingen seines Alltags fand er eine Packung Blättchen und eine zusammengeknüllte Tüte Halfzware. Das Rauchen war so eine Art Katalysator mit dem man die Gedanken in die Außenwelt pusten konnte.
Irgendwann fingen alle an zu sagen, dass es schädlich wäre und ungesund, aber diejenigen hatten die Sache mit den Gedanken nicht verstanden und somit auch nicht begriffen, dass es genauso ungesund wäre nicht zu rauchen, wenn man dies alles im Kopf behalten müsste.
Und wenn es darum ging eine Zigarette zu drehen, dann waren seine Finger noch immer so schnell wie  mit zwanzig, oder wann auch immer er zum ersten mal eine Zigarette gedreht hatte.
Manche Dinge änderten sich wohl wirklich nie.
Der alte Mann steckte sich die Zigarette an, es war schon ein bisschen schade, dass er den Rauch nicht mehr so stark im Rachen spürte, wie als er noch zwanzig war, aber es ging ja um andere Dinge.
Er nahm ein paar tiefe Züge und bließ den Rauch aus.
Gedanken.
Dann nahm er einen Schluck Bier und es gefiel ihm, wie sich die beiden Dinge so gut verstanden, immer schon verstanden hatten.
Er stellte sich vor, wie sich zwei Männer, einer in einem qualmblauen, der andere in einem bierflaschenbraunen Anzug trafen und sich freundschaftlich die Hände schüttelten, wie es nur zwei Leute taten, die sich schon eine lange Zeit kannten.
Aber irgendwie mussten die beiden sich über die Jahre entfremdet haben, vielleicht weil einer von beiden seine Freunde zu einem dieser Meetings mitgebracht hatte.
Ja, irgendwie verstanden sie sich nicht mehr so gut, wie noch vor vielen Jahren. Aber dem auf der Bank Sitzenden wunderte das nicht sonderlich, schließlich verstand er sich auch mit seinen Freunden nicht mehr sonderlich, mit denen aus den früheren Jahren sogar garnicht mehr. Kranke Schweine. Er fragte sich, ob sie überhaupt lebten.
Wahrscheinlich nicht viele, aber manche!
Manche hatten es ja auch ganz anders gemacht und waren jetzt hohe Tiere, kranke Schweine, irgendwo da, wo es solche Leute dann hin verschlug.
Aber das waren auch die gewesen, die alles irgendwie immer anders gemacht hatten.
äußere Aussenseiter oder sowas.
Er nahm noch einen Zug von seiner Zigarette und wischte mit dem Handrücken über seinen Mund, sodass sich zu den Pastellfarben dünne gelbe Streifen gesellten.