Wie seichter
Schneefall stand sie da.
Schlohweiß.
Wunderschön.
Wäre man ganz
nah an sie heran gegangen, so hätte sich das pulsierende Blut in
ihren Adern hören lassen.
Er die Arme so
weit geöffnet wie möglich, bebend in leidenschaftlicher
Anstrengung.
Zwischen ihnen
nichts als Distanz, endlose, doch trotzdem so eng zusammen, dass die
Entfernung furchteinflößend gewirkt hätte. Und tatsächlich, jetzt
fingen sie ein wenig an zu zittern, erst unmerklich, dann etwas
stärker und schließlich schüttelten sie sich.
Er die Arme
ausgebreitet, sie stumm und weiß.
<Wohin gehen wir Marie?>
Leichtes
Unbehagen in den Augen, Worte können soviel zerstören.
Das nicht tun,
niemals.
Keine Antwort,
keine gesprochene, nur Blicke die sich treffen und mehr zu sagen
vermögen als all die verbrauchten Floskeln und Binsenweisheiten, mit
denen man um sich zu werfen pflegt, wenn man nicht den Mumm besitzt
sein Herz anstatt seinen Kopf sprechen zu lassen.
Das ist
Ehrlichkeit.
Die Antwort etwas ehrlich nicht zu wissen.
Gleichsam eine
unausgesprochene Gegenfrage:
<Wohin gehen wir Leonard?>
Aber nur die
Bekundung von Unwissenheit und Unkenntnis durch das Abwenden von
ihrem Antlitz; er konnte es auch überhaupt nicht wissen, schließlich
waren sie beide noch nie hier gewesen.
Falls man es
irgendwann noch einmal braucht: Wenn es so etwas wirklich gibt, dann
ist das die große Leere. Hier gibt es nichts an dem sich zu
orientieren möglich wäre, also ist es ratsam von vornherein keinen
Versuch dahingehend zu unternehmen. Das nur nebenbei bemerkt.
Die Zeit stand
still. Es muss wohl kalt gewesen sein, zumindest zitterten sie noch
immer, obwohl sie keine Angst mehr verspürten.
Wovor auch.
Höchstens etwas
komisch mochten sie sich vorkommen, wie sie da so standen, sie kalt
und undurchsichtig, er hingebungsvoll nichts umarmend.
Seine Gedanken
flogen dahin; ob es stimmte, dass sie sich schon einmal alles
gesagt hatten, was man sich sagen konnte? Es war ein Rätsel, wie
dergleichen ein zweites mal hätte geschehen können, aber die Stille
bewies erschreckend, dass dieselben Fehler einen immer und immer
wieder passieren können, gleich wie sehr man sich auch anstrengen
mag sie zu vermeiden.
Das mag
täuschen, auf einen erneuten Versuch lohne es sich bestimmt ankommen
zu lassen.
Nur die
richtigen Worte hatten sich versteckt, wie es die meisten Dinge
taten, wenn sie wirklich gebraucht wurden.
<Woher kommen wir Marie?>
Und darauf schien sie eine Antwort zu wissen. Eine winzige Träne
troff wie ein einsamer Kristall ihre blasse Wange hinunter.
Da war es auch ihm klar, doch er wollte es noch nicht wahrhaben.
In Paris war man nie gewesen, obwohl oft davon die Rede war. Es gab
noch mehr, ein riesengroßer Haufen voller toller Ideen, manche
abstrakter als andere, aber allesamt erst einmal behutsam abgelegt,
vertröstet auf späteres abtragen.
Dann Stück für Stück, bis es irgendwann Zeit für einen neuen
Haufen sein würde.
So war es bei den meisten, so viele tolle Einfälle, man hätte einen
ganzen Ozean damit füllen mögen.
Schade, dass immer so unfassbar viel liegenblieb, eine Tages könnte
kein Platz mehr sein, alles schon geplant und erträumt!
Dann würde man es hier lagern können dachte Leonard, dann gebe es
auch mehr zu tun als zu zittern vor Ungewissheit oder Verdrängung.
Was nur geschehen sein mochte? Mit ihnen, bevor das so weiterging.
Ein warmer
Tee auf einem kalten Fenstersims, irgendwo vor Amsterdam, Amstelveen
vielleicht. Die Beine übereinander gelegt und gestreichelt,
ineinander verschlungene Geister, weit weg von Zuhause.
Eine weitere Träne floh aus ihren Augenwinkeln hinab ins Ungewisse.
Beinahe gelassen wie sie da stand, oder teilnahmslos, der Unterschied
ließ sich nicht ausmachen.
Es war wohl hauptsächlich diese Kälte in ihr, dieser Schnee, wie in
einer kleinen Kugel mit Panorama, nur dass sie sich selbst
schüttelte.
Verwunderlich, dass ihm seine Arme nicht schwer wurden, obwohl er
noch immer wie empfangend auf irgendetwas wartete. Was auch immer das
sein mochte. Es war schwierig gewesen, natürlich nicht von Anfang
an, die Angelegenheiten neigen dazu sich erst mit der Zeit zu
verkomplizieren, was unbestreitbar eine bodenlose Frechheit ist mit
der man sich abfinden muss.
Etliche schöne Momente und dann kann man sich einfach nicht mehr
dazu durchringen alles gemeinsame wegzuwerfen, also beginnt das
sichern und retten von dem was übrig ist, dann wird es zur Pein und
selbst das scheint seine schönen Seiten zu haben.
Die Kunst liegt darin Auswege zu finden, auch Ideen, auch auf Haufen
gestapelt, aber auf anderen, jene die am seltensten abgetragen
werden.
Die Reise nach Amsterdam war auf so einem Haufen gewesen. Leonard
erhielt Klarheit, von jener Art, wie er sie an unzähligen still
verkrochenen Abenden herbeigesehnt hatte.
Es war gut das Ganze ohne wenn und aber betrachten zu können.
Vielleicht zum ersten mal.
Warmer Tee
auf einem kalten Fenstersims, zwei Zentimeter Glas vom grauen
regnerischen Tag getrennt. Leere Gefühlsduseleien wo keine Gefühle
mehr zu finden sind.
Reisen,
gemeinsame Passion und Ablenkung durch Unternehmung, die durchdacht
sein wollte.
<Leonard?>
Ihr Mund blieb geschlossen, doch die anmutige Eleganz der zierlichen
Frauenstimme zerriss die Stille und ließ den Raum in seinen
Grundfesten erbeben. Ein Mensch hat solche Kraft nicht, hier hatte
ein Gefühl gesprochen.
Es war ganz kurz wieder als wäre nichts gewesen, doch nur ein
Atemzug und nervenzerreißende Spannung durchflutete jede einzelne
von Leonards Zellen. Jetzt war noch nicht alles gesagt worden.
Regentropfen
perlten sich in Eile von der angerosteten Motorhaube des VW Golf.
Beobachtet durch zwei Augenpaare, leicht verquillt, da erst gerade
nach ungeruhsamen Schlafe erwacht.
Das Wetter packt einen meist von hinten bei den Achillessehnen um den
Boden unter den Füßen verlieren zu machen, was mithin die
hinterhältigste Federführung für Striche durch Rechnungen
darstellt. Die Verbissenheit jedoch weiß sich kunstvoll durch bloßes
ignorieren der Tatsachen darüber hinwegzusetzen.
Schließlich musste man immer weitermachen!
Abscheulicher,
wässriger Tee. Abscheuliche, wässrige Welt.
So etwas kann
gar nicht schön sein, ganz im Gegenteil scheint es einem den
Verdruss mit Fäusten ins Gesicht schlagen zu wollen. Ob man gut
geschlafen habe wurde gefragt und ein Zeichen setzend kam die
gebrummte Antwort, dass die Nacht eher durchwachsen gewesen sei.
Man ist sich
der Möglichkeit der Stimmungsmache in jegliche Richtung durchaus
bewusst, wahrscheinlich befindet sich wie bei den zum Schutz
vorgehaltenen Tassen ein Knacks in der Kopfgegend. Henkel besitzen
sie aber durchaus. Immerhin.
Gerade
deswegen besann man sich darauf still zu trinken und den anhaltenden
Regen zu beobachten.
Noch
auszureifende Pläne wurden vorgetragen; umkehren?
Keine Option.
Das Wetter
würde sich mit Bestimmtheit aufklären, weiterfahren wäre
empfehlenswert, immerhin war nicht gerade viel Zeit Schönes
miteinander zu erleben. Nur ein Wochenende, dann ginge es zurück in
den Alltag und alles müsse wieder gut sein.
Und es war
schon Samstagmorgen!
Leonard blickte Marie an.
Sie weinte nicht mehr, zu zittern hatte sie aufgehört. Dafür sah
auch sie ihn an, in ihn hinein und dann wieder ihre Stimme zwischen
geschlossenen Lippen: <Es tut mir leid.>
Sachen wurden
in Windeseile gepackt, dabei gemurmelte Verwünschungen auf Gott und
die Welt; selbstverständlich war man sich darüber im klaren, dass
die Grundlage eine bessere hätte sein können, aber Plan war Plan
und zumindest in halber Sicherheit wurde sich gewägt, dass eins zum
anderen finden könne.
Autotüren
schlugen zu, quietschende Reifen schickten sich an den Vorplatz einer
leicht heruntergekommen Autobahnraststätte auf nimmer Wiedersehen
den Rücken zu kehren.
Dem Regen tat
das sichtlich leid, zum Beweis beweinte er all das Unglück der Welt.
Noch rund 50
Kilometer zu fahren, nicht mehr weit bis es besser gehen würde.
Im Radio lief
„white satin“, die Stimmung angespannt.
Ob er nicht
fahren solle, schließlich war die Sicht schlecht.
Das wäre
schon okay, immerhin war seine Nacht nicht gut gewesen, sie wolle ihm
einen Gefallen tun.
Eigentlich
wollte sie sagen, dass sie sich für die bessere Fahrerin hielt, das
musste untergründig mitgeschwungen sein.
Dicke Luft.
Es war nicht
recht fair, das wusste sie, aber es stimmte und das wusste er.
Volle Fahrt,
man wollte schnell sein.
Er hätte
besser geschlafen, hätte sie nicht soviel Platz in Anspruch
genommen.
Gehässige
Stichelei, darauf nicht einsteigen.
Und was wenn
doch?
Niemand habe
ihn gezwungen neben ihr zu schlafen!
Die
Zündschnur entfacht.
Vielleicht
sollte er sich das noch einmal überlegen in nächster Zeit neben ihr
zu schlafen.
Wutentbrannt.
Vielleicht
sollte er sich verdammtnochmal zum Teufel scheren.
Die Bombe
platzt!
Seine Arme
wie zum offenen Angriff ausgebreitet, sie ihn mit ihrem kältesten
Blick durchdringend, das Gaspedal vor Wut durchgetreten.
Rasend
schnell bäumt sich der Hass auf, wenn man ihm freien Lauf lässt.
120 Sachen,
er ansetzend ihr irgendeine Beleidigung entgegenzuschmettern.
Das Herz zu
brechen.
Sie ihm
zugewandt.
Der Fahrer
ihm Auto vor ihnen verliert die Kontrolle, Aufprall.
In der Luft.
„Never
reaching the end.“
Dann
erstarrt. Für immer.
Seichter
Schneefall und weit geöffnete Arme.