Freitag, 4. April 2014

Anfang und Ende sind Namen des gleichen Begriffs


Wie seichter Schneefall stand sie da.
Schlohweiß.
Wunderschön.
Wäre man ganz nah an sie heran gegangen, so hätte sich das pulsierende Blut in ihren Adern hören lassen.
Er die Arme so weit geöffnet wie möglich, bebend in leidenschaftlicher Anstrengung.
Zwischen ihnen nichts als Distanz, endlose, doch trotzdem so eng zusammen, dass die Entfernung furchteinflößend gewirkt hätte. Und tatsächlich, jetzt fingen sie ein wenig an zu zittern, erst unmerklich, dann etwas stärker und schließlich schüttelten sie sich.
Er die Arme ausgebreitet, sie stumm und weiß.
<Wohin gehen wir Marie?>
Leichtes Unbehagen in den Augen, Worte können soviel zerstören.
Das nicht tun, niemals.
Keine Antwort, keine gesprochene, nur Blicke die sich treffen und mehr zu sagen vermögen als all die verbrauchten Floskeln und Binsenweisheiten, mit denen man um sich zu werfen pflegt, wenn man nicht den Mumm besitzt sein Herz anstatt seinen Kopf sprechen zu lassen.
Das ist Ehrlichkeit.
Die Antwort etwas ehrlich nicht zu wissen.
Gleichsam eine unausgesprochene Gegenfrage:
<Wohin gehen wir Leonard?>
Aber nur die Bekundung von Unwissenheit und Unkenntnis durch das Abwenden von ihrem Antlitz; er konnte es auch überhaupt nicht wissen, schließlich waren sie beide noch nie hier gewesen.
Falls man es irgendwann noch einmal braucht: Wenn es so etwas wirklich gibt, dann ist das die große Leere. Hier gibt es nichts an dem sich zu orientieren möglich wäre, also ist es ratsam von vornherein keinen Versuch dahingehend zu unternehmen. Das nur nebenbei bemerkt.
Die Zeit stand still. Es muss wohl kalt gewesen sein, zumindest zitterten sie noch immer, obwohl sie keine Angst mehr verspürten.
Wovor auch.
Höchstens etwas komisch mochten sie sich vorkommen, wie sie da so standen, sie kalt und undurchsichtig, er hingebungsvoll nichts umarmend.
Seine Gedanken flogen dahin; ob es stimmte, dass sie sich schon einmal alles gesagt hatten, was man sich sagen konnte? Es war ein Rätsel, wie dergleichen ein zweites mal hätte geschehen können, aber die Stille bewies erschreckend, dass dieselben Fehler einen immer und immer wieder passieren können, gleich wie sehr man sich auch anstrengen mag sie zu vermeiden.
Das mag täuschen, auf einen erneuten Versuch lohne es sich bestimmt ankommen zu lassen.
Nur die richtigen Worte hatten sich versteckt, wie es die meisten Dinge taten, wenn sie wirklich gebraucht wurden.
<Woher kommen wir Marie?>
Und darauf schien sie eine Antwort zu wissen. Eine winzige Träne troff wie ein einsamer Kristall ihre blasse Wange hinunter.
Da war es auch ihm klar, doch er wollte es noch nicht wahrhaben.
In Paris war man nie gewesen, obwohl oft davon die Rede war. Es gab noch mehr, ein riesengroßer Haufen voller toller Ideen, manche abstrakter als andere, aber allesamt erst einmal behutsam abgelegt, vertröstet auf späteres abtragen.
Dann Stück für Stück, bis es irgendwann Zeit für einen neuen Haufen sein würde.
So war es bei den meisten, so viele tolle Einfälle, man hätte einen ganzen Ozean damit füllen mögen.
Schade, dass immer so unfassbar viel liegenblieb, eine Tages könnte kein Platz mehr sein, alles schon geplant und erträumt!
Dann würde man es hier lagern können dachte Leonard, dann gebe es auch mehr zu tun als zu zittern vor Ungewissheit oder Verdrängung.
Was nur geschehen sein mochte? Mit ihnen, bevor das so weiterging.

Ein warmer Tee auf einem kalten Fenstersims, irgendwo vor Amsterdam, Amstelveen vielleicht. Die Beine übereinander gelegt und gestreichelt, ineinander verschlungene Geister, weit weg von Zuhause.

Eine weitere Träne floh aus ihren Augenwinkeln hinab ins Ungewisse. Beinahe gelassen wie sie da stand, oder teilnahmslos, der Unterschied ließ sich nicht ausmachen.
Es war wohl hauptsächlich diese Kälte in ihr, dieser Schnee, wie in einer kleinen Kugel mit Panorama, nur dass sie sich selbst schüttelte.
Verwunderlich, dass ihm seine Arme nicht schwer wurden, obwohl er noch immer wie empfangend auf irgendetwas wartete. Was auch immer das sein mochte. Es war schwierig gewesen, natürlich nicht von Anfang an, die Angelegenheiten neigen dazu sich erst mit der Zeit zu verkomplizieren, was unbestreitbar eine bodenlose Frechheit ist mit der man sich abfinden muss.
Etliche schöne Momente und dann kann man sich einfach nicht mehr dazu durchringen alles gemeinsame wegzuwerfen, also beginnt das sichern und retten von dem was übrig ist, dann wird es zur Pein und selbst das scheint seine schönen Seiten zu haben.
Die Kunst liegt darin Auswege zu finden, auch Ideen, auch auf Haufen gestapelt, aber auf anderen, jene die am seltensten abgetragen werden.
Die Reise nach Amsterdam war auf so einem Haufen gewesen. Leonard erhielt Klarheit, von jener Art, wie er sie an unzähligen still verkrochenen Abenden herbeigesehnt hatte.
Es war gut das Ganze ohne wenn und aber betrachten zu können.
Vielleicht zum ersten mal.

Warmer Tee auf einem kalten Fenstersims, zwei Zentimeter Glas vom grauen regnerischen Tag getrennt. Leere Gefühlsduseleien wo keine Gefühle mehr zu finden sind.
Reisen, gemeinsame Passion und Ablenkung durch Unternehmung, die durchdacht sein wollte.

<Leonard?>
Ihr Mund blieb geschlossen, doch die anmutige Eleganz der zierlichen Frauenstimme zerriss die Stille und ließ den Raum in seinen Grundfesten erbeben. Ein Mensch hat solche Kraft nicht, hier hatte ein Gefühl gesprochen.
Es war ganz kurz wieder als wäre nichts gewesen, doch nur ein Atemzug und nervenzerreißende Spannung durchflutete jede einzelne von Leonards Zellen. Jetzt war noch nicht alles gesagt worden.

Regentropfen perlten sich in Eile von der angerosteten Motorhaube des VW Golf. Beobachtet durch zwei Augenpaare, leicht verquillt, da erst gerade nach ungeruhsamen Schlafe erwacht.

Das Wetter packt einen meist von hinten bei den Achillessehnen um den Boden unter den Füßen verlieren zu machen, was mithin die hinterhältigste Federführung für Striche durch Rechnungen darstellt. Die Verbissenheit jedoch weiß sich kunstvoll durch bloßes ignorieren der Tatsachen darüber hinwegzusetzen.
Schließlich musste man immer weitermachen!

Abscheulicher, wässriger Tee. Abscheuliche, wässrige Welt.
So etwas kann gar nicht schön sein, ganz im Gegenteil scheint es einem den Verdruss mit Fäusten ins Gesicht schlagen zu wollen. Ob man gut geschlafen habe wurde gefragt und ein Zeichen setzend kam die gebrummte Antwort, dass die Nacht eher durchwachsen gewesen sei.
Man ist sich der Möglichkeit der Stimmungsmache in jegliche Richtung durchaus bewusst, wahrscheinlich befindet sich wie bei den zum Schutz vorgehaltenen Tassen ein Knacks in der Kopfgegend. Henkel besitzen sie aber durchaus. Immerhin.
Gerade deswegen besann man sich darauf still zu trinken und den anhaltenden Regen zu beobachten.
Noch auszureifende Pläne wurden vorgetragen; umkehren?
Keine Option.
Das Wetter würde sich mit Bestimmtheit aufklären, weiterfahren wäre empfehlenswert, immerhin war nicht gerade viel Zeit Schönes miteinander zu erleben. Nur ein Wochenende, dann ginge es zurück in den Alltag und alles müsse wieder gut sein.
Und es war schon Samstagmorgen!

Leonard blickte Marie an.
Sie weinte nicht mehr, zu zittern hatte sie aufgehört. Dafür sah auch sie ihn an, in ihn hinein und dann wieder ihre Stimme zwischen geschlossenen Lippen: <Es tut mir leid.>

Sachen wurden in Windeseile gepackt, dabei gemurmelte Verwünschungen auf Gott und die Welt; selbstverständlich war man sich darüber im klaren, dass die Grundlage eine bessere hätte sein können, aber Plan war Plan und zumindest in halber Sicherheit wurde sich gewägt, dass eins zum anderen finden könne.
Autotüren schlugen zu, quietschende Reifen schickten sich an den Vorplatz einer leicht heruntergekommen Autobahnraststätte auf nimmer Wiedersehen den Rücken zu kehren.
Dem Regen tat das sichtlich leid, zum Beweis beweinte er all das Unglück der Welt.
Noch rund 50 Kilometer zu fahren, nicht mehr weit bis es besser gehen würde.
Im Radio lief „white satin“, die Stimmung angespannt.
Ob er nicht fahren solle, schließlich war die Sicht schlecht.
Das wäre schon okay, immerhin war seine Nacht nicht gut gewesen, sie wolle ihm einen Gefallen tun.
Eigentlich wollte sie sagen, dass sie sich für die bessere Fahrerin hielt, das musste untergründig mitgeschwungen sein.
Dicke Luft.
Es war nicht recht fair, das wusste sie, aber es stimmte und das wusste er.
Volle Fahrt, man wollte schnell sein.
Er hätte besser geschlafen, hätte sie nicht soviel Platz in Anspruch genommen.
Gehässige Stichelei, darauf nicht einsteigen.
Und was wenn doch?
Niemand habe ihn gezwungen neben ihr zu schlafen!
Die Zündschnur entfacht.
Vielleicht sollte er sich das noch einmal überlegen in nächster Zeit neben ihr zu schlafen.
Wutentbrannt.
Vielleicht sollte er sich verdammtnochmal zum Teufel scheren.
Die Bombe platzt!
Seine Arme wie zum offenen Angriff ausgebreitet, sie ihn mit ihrem kältesten Blick durchdringend, das Gaspedal vor Wut durchgetreten.
Rasend schnell bäumt sich der Hass auf, wenn man ihm freien Lauf lässt.
120 Sachen, er ansetzend ihr irgendeine Beleidigung entgegenzuschmettern.
Das Herz zu brechen.
Sie ihm zugewandt.
Der Fahrer ihm Auto vor ihnen verliert die Kontrolle, Aufprall.
In der Luft.
Never reaching the end.“
Dann erstarrt. Für immer.
Seichter Schneefall und weit geöffnete Arme.